Schmetterlinge am Fluß

In ungeregelten Abständen an dieser Stelle Geschichten aus Emschau, Emschau an der Emscher, Geschichten aus der Stadt, wie sie jeder kennt ...
Wer kennt alle Städte im sogenannten Ruhrgebiet? Und wer kennt Emschau? Emschau a.d. Emscher (wie der Name schon vermuten lässt), ein idealruhrgebietstypischer Siedlungsbrei ohne Anfang und ohne Ende, grenzenlos provinziell, ein hundsgewöhnliches Dingenskirchen zwischen Bochum, Dortmund und Castrop-Rauxel, ganz bestimmt KEINE RuhrSTADT, höchstens eine UNRUHRstadt, auch wenn hier "Nymphalidae" verlegt wurde, man sich also nicht bloß metropol, sondern gleich richtig interstellar gibt; aber der Bahnhof über der immer noch einbetonierten Abwasserkloake, die der Stadt den Namen gibt, und der zur Investitionsruine verkommene zweite Rathausturm (Emschau grüßt New York!) sprechen für sich; wenn es auch echte Highlights gibt: wie den riesigen Chemie-Hafen und den wirklich wunderbar unchristlichen Emscherdom.
Heute ein Kapitel aus dem Roman "Kinder von Nymph", dem zweiten Buch der Nymphalidae-Trilogie:

 

Frühnebel, der nach altem Obst roch, und ein grundloses Gefühl, heulen zu müssen. Christopher sprang aus dem Bett, so hastig, dass er beinahe über die Schreibmaschine gestolpert wäre. Sein Fenster ging zur Emscher raus, vielmehr zum Emscherdeich, der an den Garten grenzte. Er zog das Rollo hoch und ließ sich vom Himmelslicht der Fünfuhrfrühsonne blenden, ein trübes Licht, das trotzdem die Augen tränen machte - besser als wirklich heulen, besser, sich die Netzhaut von den wie Eiskristalle glitzernden Tautropfen vernageln zu lassen, als zu heulen. Sein Herz klopfte, ihm wurde schwindelig, er war ja nicht mehr der Jüngste, haha, immerhin 17, festhalten, am Griff des halb offenen Holzfensters, das aufziehen, den Nebel reinlassen, den Nebel, der verloren unten im Garten waberte, der sich gerade auflöste. Dem Nebel eine Zuflucht sein.
(Oh Mann, was habe ich für einen Mist geträumt?)
Unsichtbar hinterm Deich, auf Augenhöhe - und Christopher befand sich immerhin im ersten Stock - war der Wasserspiegel des Köttelbachs, der heute duftete, als wäre schon Herbst. Und bei Hochwasser stand die Emscher höher als der Dachfirst. Wie im Film: warten, bis der Damm bricht, alles überflutet, Armageddon, Punk!
Ihm war noch immer schwindelig. Scheiß Rotwein. Scheiß Erdbeerrotwein, sie hatten gestern diesen Scheißwein getrunken und um die Wette geraucht. Gestern ... bis vor ein paar Stunden war das gewesen, und jetzt wollte sein Magen explodieren. Mit jeder Hand klammerte er sich an einen Fensterflügel, zog den Obstgeruch tief in die Nase, unter ihm das Teerpappedach des Schuppens, auf das er gleich kotzen würde, dahinter Sträucher, und am Deich der Jägerzaun, und auf dem Deichtau huschten drei Schmetterlingsmenschen umher, sie grasten, oder suchten nach Muscheln. Sie waren es auch gewesen, die vor ein paar Wochen die Erde aufgerissen hatten, hundert Meter weiter, bei den Pahlkes, denen eines Morgens die Brühe im Garten stand, langsam ansteigend. Sogar hier hatte das Wasser die Beete überspült, und immer noch, er beugte sich hinaus - kotzen oder gucken -, immer noch sah man zur Rechten Bauzäune und Flatterband, und einen großen braunen Erdflicken im Deich.
Christopher schaute den Schmetterlingen hinterher, die wuselten die Böschung hoch, und, husch, waren sie hinter der Deichkrone verschwunden.
Schweiß lief ihm in die Augen, Schweiß, so früh, es war doch noch kalt, kalter Schweiß, und sein Magen, oder sein Darm ..., er konnte nicht mehr stehen und torkelte zurück, durch das Zimmer, stapfte über seine klitschnasse Jeans, da, dort, die Schreibmaschine, in dem Lederkoffer, er wollte doch schreiben! Christopher stieß den Koffer um und hockte sich darüber. Und dann kackte er, was unglaublich wohltat, er trug nicht mal seine Schlafanzughose, nur das Hemd, und jetzt aber raus, raus hier, er torkelte zurück zum Fenster, dachte oder sagte noch einmal, »Scheißwein!«, dann ließ er sich nach vorne fallen, machte einen ungelenken Salto hinaus, krachte mit dem Rücken aufs Schuppendach und verlor gänzlich jeden Halt, rollte, schlingerte, ein Magensausen, und dann lag er, nachdem er das Geäst des Apfelbaums durchschlagen hatte, im Laubhaufen, zwischen abgeschnittenen Ästen und Moder.
Musste er jetzt doch noch kotzen? Christopher stand auf, das nasse Laub beruhigte den Magen, er lief, rannte die paar Schritte zum Zaun, stieg irgendwie darüber, schrammte sich dabei noch die Schenkelinnenseite auf, Mann, das war knapp, und dann den monumentalen Deich hoch, bis er in der Sonne stand und zurücksah; hinab auf das Haus seiner Eltern. Auf die schwarzrote Klinkersiedlung, die untergehende Siedlung, seit fünfzig Jahren versank Berghagen, Haus an Haus geschultert, einträchtig folgte man den einstürzenden Stollen. 'Bergsenkung' hieß das, es gibt Fotos, auf denen ist die Emscher noch unten und die Siedlung oben. Ein paar der Zechenhäuser trotzen den vielen Rissen mit neuer Fassade: gelber Putz oder Eternitplatten.
(*OB*Märchenbezug zu viel? Oder ist die Emscher der Darm des Wolfes? Wie bei Harry am Anfang?*OB*)Ich habe geträumt, ich wäre da unten; in tausend Metern Tiefe, und diese Scheißhaussiedlung würde versinken und mich ganz, ganz langsam zerquetschen, und keiner hat meine Rufe gehört, ich war ja auch zu leise, habe nicht geschrien, in der Höhle, nur gewinselt, wie ein Hund, ICH WAR DA UNTEN! Und der Fluss? Der durfte nicht mitsinken, in seinem Bett aus Beton und schlierig schwarzen Wackersteinen; eigentlich keine Wackersteine, aber der Emscherschlick machte sie so glatt und schlüpfrig wie die großen Kiesel im Bauch des Wolfes.
Christopher schaute nach Osten, der noch tief stehenden Sonne und der dampfenden Kloake entgegen, die aus dieser Perspektive einen edlen, schwarzen Glanz hatte, ein Glanz, der durch die Frühnebelschwaden durchschimmerte, und dazwischen, für eine Zehntelsekunde, tauchten die Schmetterlinge auf, wie fliegende Fische, Schmetterlingsmenschen, die unterm Emschergrund hausten.
Er fröstelte. Umschlang sich mit den Armen, die Sonne tat gut, und der Geruch war hier, auf dem Deichgras, direkt über dem Wasser, weniger aufdringlich als in seinem Zimmer. Das war immer so. Als würde der Geruch sein Aroma erst entfalten, wenn er schon ein Stück durch die Siedlung gezogen war.
Auf der gegenüberliegenden Deichkrone führte jemand seinen Hund aus, aber weit hinten, Richtung Westen, und der Mann entfernte sich, würde Christopher also nicht sehen, und wenn schon. Eigentlich scheißegal. Sollte doch Martina ihn jetzt sehen, die auf der anderen Seite des Flusses lebte, in den Hochhäusern, hinter der Deutschlandfahne, die aus einem von hier aus unsichtbaren Kleingarten herausragte. Hochhäuser, die gar keine waren, aber so genannt wurden, die sich einfach nur erfolgreicher gegen das Versinken wehrten, von denen immer noch was rausgucken würde, wenn die unteren Geschosse längst untertage waren. Kein Vergleich zu echten Hochhäusern wie in Frankfurt, oder New York, selbst das Rathaus von Emschau war höher ...
Wenn Christopher hier oben stand, konnte er ihr Fenster sehen. Ihr Fenster, hinter dem sie auf ihn wartete, vielleicht zwei- oder dreihundert Meter von hier, das dritte von rechts im vierten Stock des linken Gebäudes, dort saß sie oft und schaute hinaus, ein sehnsüchtiges Mädchen am Fenster, das ihn nie ansah, selbst wenn er im Schulbus neben ihr stand.
Würde sie ihn JETZT ansehen, wie peinlich wäre das, und er hatte schon wieder das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Was stehe ich wie ein Traumwandler hier rum?, dachte er. Die Attacke seines Magens ging vorüber, hundert oder fünfhundert Emschauer könnten ihn hier sehen! Wie viel Prozent einer Bevölkerung steht morgens um fünf auf und schaut zum Deich, und tatsächlich erschien ausgerechnet jetzt an Martinas Fenster ein Schatten. Christopher warf sich nach vorne, der zweite Stunt heute, und auch diese Rolle war eine Katastrophe, ich hasse Sport!, sein Körper rollte wie ein alter Teppich hinunter. Auf der Zwischenberme blieb er liegen. Mit einer blutigen Schramme auf der Stirn. Hier war noch Gras, erst dahinter, darunter begann das Geröll, das gar keins war, das waren fest in die Böschung geschlagene Felsbrocken, jeder so groß oder größer als seine Schultasche.
Sein Kopf tat weh, aber die Aktion war auch ernüchternd gewesen. Mit nacktem Arsch auf der Emscher zur Besinnung kommen, geht's noch? Wenigstens hatte er die Stadt jetzt ausgeblendet; von hier aus sah er weder die Reihenhäuser von seiner Seite, noch die halbhohen Hochhäuser gegenüber. Nur flussaufwärts, hinter dem gegenlichtgrauen Wust aus Dampf, Chemie und Stadtwald wuchs der Rathausturm hervor, aber weit weg, nur ein dünner Pinn in der Landschaft, eine Nadel, die der Sonne in den Hintern piekste. Der Bürgermeister bräuchte ein verdammt gutes Teleskop, um Christophers Pimmel zu sehen. Er lachte über seinen Gedanken. Und jetzt? Der Fluss hatte zwar kein Hochwasser, stand aber dennoch hoch, nur knapp unter der Berme. Als hätte es kräftig geregnet, hatte es aber nicht. Oder man hatte gerade stadtweit kollektiv geduscht, oder, noch schlimmer, ge..., bah!
Wie um das zu bestätigen, kroch ihm der Geruch von Zahnbelag in die Nase, mit dem Fingernagel abgeknibbelter Zahnbelag, aber nur für einen kurzen Moment, eigentlich war das Wasser sogar erstaunlich klar. Nicht dass man zum Grund sehen konnte, aber es fehlten heute die sonst üblichen Undefinierbaren. Und ab und zu erschien ein grüner Blitz, eine Alge oder so was, vielleicht ein Schmetterlingsmensch, auf jeden Fall etwas LEBENDES! Wo doch die Emscher der Fluss des Todes war. Selbst die morgendlichen Singvögel waren hier ausgeschaltet. Stattdessen, flussabwärts, eine Kolonie Möwen, aber die noch schläfrig, nur ab und zu ein kurzer Kreisch, als wäre man am Meer. Oder auf einem fremden Planeten, als wäre man ein Astronaut in einem schwarzen, grünen Kanal, einem pulverrauchenden Schützengraben, einer sicheren Verbindung, in der die Invasoren, zu denen Christopher gehörte, von Station zu Station gelangten. Ein Nebelband, dass sich schnurgerade - selbst die Kurven mit dem Zirkel gezeichnet - durch eine Welt zog, die man sich jenseits der Schutzwälle nur vorzustellen brauchte, eine von Urzeitmonstern bevölkerte Dschungelwelt, und der Rathaus-Pinn die Rakete, mit der man in der Nacht gelandet war.
Trotzdem sah das scheiße aus, wie er hier saß. Zurück, er musste dringend zurück, er wäre am liebsten nie hergekommen, wie krank war er, als er das Zimmer verlassen hatte? Ich will in mein Zimmer, will im Bett geblieben sein, Christopher musste zurück, sofort, seine Eltern schliefen hoffentlich noch. Aber nein, ausgerechnet jetzt stoben die Möwen auf, da kam einer! Der Mann mit Hund zurück? »Kreisch, Kreisch!«, machten die Viecher, und auf einem Fahrrad klapperte da ein Mann auf ihn zu, ein Typ, der ihm sofort bekannt vorkam, der sah aus wie einer, mit dem er sich gestern diesen Dreckswein geteilt hatte: Das war Schizzo!, ausgerechnet!
»Fuck!«, rief Christopher, der hält mich ja für total bescheuert, ein Wichser an der Emscher, Scheiße! Er zog sich sein Shirt aus und ließ sich ins Wasser fallen, der dritte Sturz heute, drei sind nun wirklich genug, dachte er, als sein Kopf untertauchte und das Wasser gar nicht kalt war, na klar, Emscherwasser ist nie kalt. Nicht Badewanne, aber auch nicht das, was man im Waldsee, zum Beispiel, zu spüren bekommen hätte. Selbst der Rhein war kälter. Er machte in der Brühe eine komische Drehung, die Strömung hatte es in sich, er tauchte auf, prustete, als wäre das was Erfrischendes - und war schon fast zehn Meter von seinem einzigen Kleidungsstück abgetrieben. Endlich bekam er Halt, stemmte seine Füße in die glitschigen, scharfkantigen Brocken, stand aufrecht, Hals aus dem Wasser gereckt, das um seine Achseln strudelte.
»Ey Chrissi, ich glaub's nicht!« Da war er schon, der Schizzo, eierte auf einem garantiert geklauten, quietschenden Damenrad über die Deichkrone, »ey Alter, ey Alter, scheiße bist du drauf!« Dann lachte er, total hysterisch, viel zu aufgedreht, auch für so eine Situation wie diese.
»Ey und du ...?«, rief Christopher zurück, nach oben, aber Schizzo antwortete nicht, sondern musste erst sein Endlosgebrabbel loswerden: »Ey, Alter, wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Hahaha, Schwarzbraun ist die Haselnuss, und aus der schwarzbraunen Kacke taucht unser Stoffer auf, deshalb bisse so'n Schwatten, ey Alter, kein Arsch is' so abgefahren wie du, Stoffer, warum fähr'sse nich' zum See, Mann? ICH wollt' zum See ...«
Am See waren sie doch erst gewesen, dachte Christopher, sie sind dann aber ..., ach ja, es hatte doch geregnet, sie sind dann nach Hause, wegen dem Regen, total besoffen, und Schizzo hatte die ganze Zeit von seinen Pilzen erzählt, die er sich in seinem Zimmer noch reinziehen wollte, die einen nicht so bräsig machten wie Alk, die einen ganz klar machten, viel klarer als alle anderen Drogen, er würde nur noch Pilze ...
»Was machst DU denn hier?«, rief Christopher noch einmal. Schizzo war stehen geblieben, das Fahrrad zwischen den Beinen, seine Augen so schwarz unterlaufen wie bei einem Totenschädel, und seine blonde Nazitolle leuchtete im Licht der Sonne. Immerhin war Schizzo angezogen, noch immer angezogen vom Vorabend, Jeans (am Körper getrocknet, der stand auf so was), und ein weites Streifenhemd, die schmale, lange Jungenbrust halb offen.
»Ey Scheiße, mein Walkman liegt da noch, ey Alter ich wollte Musik hör'n, meine Alten haben sofort Stress gemacht, und dann merk'ich, Scheiße, der Walkman liegt noch am See ... Aber du hast doch den absoluten Vollknall, in der Jauche schwimmen zu gehen!«
»Is' ma' was anderes ... Hier unten ...«
Schizzo lachte wieder, als würde ihn jemand aufschlitzen und das kitzelte.
»Hier unten bist du echt woanders«, rechtfertigte sich Christopher, »total woanders, die ganze Scheißstadt ist weg, du bist voll auf einem anderen Planeten ...«
»Du mit deinem anderen Planeten, Stoffer! Hat dir gestern nich' gereicht, wa'? Dein Planet heißt Afrika, Kolläga! ... hahaha, ma' erhrlich, wat mach'sse da unten?«
Wenn schon, dann Amerika, dachte Christopher, manchmal nervten Schizzos Nazisprüche ganz schön. Was habe ich denn gestern Abend erzählt? Christopher konnte sich nicht mehr erinnern. Und hatte nicht Schizzo die ganze Zeit gelabert?
»Ich fange Schmetterlinge!«, rief er nach oben.
»Im Schlick? Hahaha, Würmer kann'sse da fangen, du Hirni!«
»Nein, ich habe sie gesehen, vorhin, echt, Schmetterlingsmenschen!«
»Nymphendingens, wie hast du die gestern Abend genannt? Du bist echt ein Spacko!«
Ja wie hatte er sie denn genannt? Christopher wusste gar nicht, dass er über Schmetterlingsmenschen geredet hatte. Hatte er im Vollrausch eine Eingebung gehabt? Ein graubrauner Klumpen tatschte gegen seinen Ellenbogen und floss davon. Scheiße!
»Komm' runter!« rief er, »das Wasser ist okay, macht dich auch klar!«
»Ey Alter, ich bin so klar wie nur was, du Penner! Scheiße, mein Walkman ...«
Und schon fuhr er weiter. Sich noch einmal umdrehend: »Und wann geht's in die Hölle?«
Unter die Stadt. So hatte Christopher es seinen 'Kumpels' angekündigt. Unter die Innenstadt, die nicht versunken ist wie Berghagen. Im Gegenteil, Im Zentrum war die Emscher versunken, man hatte sie einfach unterm Kriegsschutt vergraben, die Kacke. Seitdem nervte Schizzo, wollte auch in die Katakomben, aber Christopher blieb stur, er würde sie erst zu seinem Achtzehnten dort reinlassen, ihnen den Weg zeigen. In einem halben Jahr, das war seine persönliche Initiation, SEIN Ritual, ein bisschen lächerlich, aber nur er kannte das Versteck von dem Schlüssel, nur er wusste, wie die Emscherleute an ihren Fluss kamen.
»Ja klar, ey, Party!« rief er seinem davonklappernden Kumpel hinterher.
Keinen Tag eher, erst zu seinem Geburtstag, sein Geheimnis, sollten die anderen ruhig so lange warten, sollten sie ruhig mal auf IHN warten, wieso kamen die eigentlich nicht selbst drauf? So schwer war das doch nicht! Im Osten strudelte die Emscher aus einem gemauerten Rundbogen heraus, aus einem fetten Gitter, und im Gitter, an der Seite, ein Gittertörchen und eine Berme, ein schmaler Weg neben dem Gerinne, ein endlos tiefer Tunnel ...
Selbst wenn er nur daran dachte, bekam er Herzklopfen, richtiges Herzrasen, als müsste er ersticken. Wieso träume ich immer so einen Dreck? Vielleicht deswegen erst in einem halben Jahr? Und trotzdem: Er ist rein, vor ein paar Wochen war das, der Schlüssel, ganz simpel, in einem Schlüsselkasten hinter einem nur davorgelegten Backstein; der ganze unterirdische Kanal aus Backstein gemauert. Christopher war ziemlich weit gegangen, nur sein Feuerzeug als Lichtquelle, wie ein Sog hatte ihn das angezogen, das ... das ... was auch immer, als hätte er sich an seiner eigenen Panik aufgegeilt! Wie ein Psychopath, und dann hatte er die Katakomben entdeckt, einen Seitengang, der direkt unter das Chemiewerk führte. Womöglich käme man bis ins Bergwerk, vielleicht gab's auch da eine Verbindung, aber dann hätte er sich vor Angst sicher eingeschissen. Der Weg neben der unterirdischen Emscher war gruselig genug. Bis zum Hauptbahnhof, den der Fluss unterquerte, hatte er sich nicht mehr getraut. Angeblich ging der Emschaukanal sogar durch die Fundamente des Rathauses.
Wieder eine Brise Zahnbelag; wie konnte sich so was Ekliges in seinem Zimmer in Obstgeruch verwandeln? Sein Kopf schmerzte, vom Sturz, vom Alk, er dröhnte trotz der Erfrischung, jetzt war ihm doch kalt, ziemlich kalt, er zitterte und kämpfte sich die steile Uferböschung hinaus, bis er wieder auf dem grasbewachsenen Betriebsweg stand. Er wischte sich mit seinem Shirt die nassen Schlieren vom Körper, so einigermaßen wenigstens, dann wickelte und knotete er es sich so um die Hüfte, dass das irgendwie wie ein Handtuch aussah, tausendmal besser jedenfalls, als es wieder anzuziehen und mit nacktem Arsch durch Daddys Garten zu spazieren.

Keine Martina mehr im Fenster, und Daddy war tatsächlich im Garten. Mann! So früh morgens! Und hatte Christopher sofort gesehen, es gab kein Zurück mehr, fuck!
»Chrissi, hast du nicht mehr alle?« Selbst wütend war Daddys Stimme immer ein bisschen wie erstickt.
»Frühsport«, versuchte Christopher zu grinsen, »DU willst doch immer, dass ich Sport mache ...«
»Sag mal ...«, sein Vater sah ihn von oben bis unten an. Der Emscherschlick trocknete schnell, Christopher verwandelte sich in einen grau-weiß angemalten Buschneger aus Papua-Neuguinea. Oder einen Aborigine, und sein großer schwarzer Daddy rief: »Sag mal, warst du DA DRIN? In der Emscher?!«
»Na klar«, lässig, betont lässig, aber sein eigener Geruch stieg Christopher in die Nase, wieder wurde ihm schlecht. Jetzt musste sein Vater grinsen. Daddy grinste, gegen seinen Willen musste er grinsen, drehte sich weg, wandte sich wieder seinen Blumen zu und murmelte »Mein Sohn! My son 's so crazy! Mein Sohn hat einen ... Mannomannomann!« Kopfschütteln.
Selten, dass Daddy Englisch sprach. Christopher schlich sich ins Haus. Er tropfte nicht mehr, hatte stattdessen einen fürchterlichen Durst, einen Scheißdurst, er würde gleich The Dead Kennedys hören, auch wenn Daddy das nicht mochte, 'Holiday in Cambodia' mochte er überhaupt nicht, Daddy hasste das, aber solange er niemanden von SEINEM Kambodscha erzählte, solange keiner wusste, was ER dort erlebt hatte, selber schuld. Also egal, Christopher holte sich eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank, und dann hoch in sein Zimmer. Bevor Mama wach wurde und Stunk machte, würde er ...
Oh Mann! Er hatte in sein Zimmer geschissen!