episoden aus der neuen welt; ein roman -episode 6-

 

billd episode_6_

 

...seit kindesbeinen an; was sag ich. direkt nach der geburt. nach der mutterbrust die erste dosis. hochkonzentriert fließts ins blut, die adern transportierens in organe, zellen, jede faser wird durchspühlt. man spürt die wärme, das anfüllen des körpers, das sich einnisten der substanz. die überwindung der blut-hirn-schranke, immer ein kleiner schock. mir wird schwarz vor augen. schattenschleier. schwindelgefühl. dann löst sich der widerstand. die kapitulation der zellen kurz vorm absaufen. dann fließts ungehindert durchs hirnnervengeflecht. der schüttelfrost lässt nach. die synapsen schießen ungehindert botenstoffe bis einem schlecht wird vor guter laune. aber auch das lässt nach. oder kehrt sich ganz in sein gegenteil, wogegen man auch machtlos ist.

 

die inneren organe sind weniger empfindlich, vorerst. das herz schlägt im gewohnten rhythmus. nur bei wenigen setzt es aus. nieren und leber krampfen nicht. sie sind gewohnt, doppelte arbeit zu leisten. die niemals vollständig erreichte entgiftung hat sie unempfindlich gemacht. wissen sie wofürs gut sein soll? sie wissens; sonst hätten sie schon längst auf ganzer linie schlapp gemacht. sie, die substanz, soll vorbeugend wirken. wirkt der bevorstehenden degeneration, der wahrscheinlichen degeneration -wir leben schon viel zu lange- konsequent entgegen. ein wahres multifunktionsprodukt. sie wissens zu schätzen, bis sie endgültig versagen. organtod. entsetzlich, oder … nein. manchmal funktioniere ich wirklich gut. vorübergehend. das zeug wirkt. andere haben scheußliche nebenwirkungen. der körper sträubt sich, bläht sich auf. versucht sich selber auszukotzen. aber das ganze ist und bleibt vollständig kontaminiert und lässt sich eben nicht so ohne weiteres entleeren. dann hängen sie wieder wochenlang auf der krankenstation. die dosis wird heruntergefahren. …wie geht es ihnen denn so? langsam müssen sie sich mal daran gewöhnen. ab morgen dann wieder die normale medikation. überwinden sie ihren trotzkopf. entspannen sie sich; lassen sies fließen. reine einstellungssache, kapiert! und dann wieder raus an die frische luft. und die letzten scheine für ein zusatzdröhnung zusammengekratzt gegen alle möglichen, vielleicht irgendwann auftretenden nebenwirkungen wie:

schlafstörungen
müdigkeit
trockner mund
verstopfung
schwitzen
kopfschmerzen
schwindelgefühl
herzrasen
gefäßerweiterung
blutdruckabfall beim aufstehen
schwierigkeit bei der einstellung des auges auf die jeweilige sehentfernung
wenig appetit
appetitlosigkeit
übelkeit
gefühl der unvollständigen oder verlangsamten entleerung der blase
vermehrtes wasserlassen
entzündung des harntrakts
sexualstörungen
schüttelfrost
bluthochdruck
allergische hautreaktionen
hautausschlag
angst
reizbarkeit
aggressives verhalten
halluzinationen
kalte gliedmaßen
abnahme der weißen blutkörperchen
niedrige blutsalze
abnahme der blutgerinnungszellen
niedrige schilddrüsenhormone
magenbluten
blut im urin
ohnmacht
gelbsucht
hautödem
ungewöhnliche, furchterregende träume
amnesie
sprachstörung
herabgesetzte empfindung
probleme mit der speiseröhre
schluckbeschwerden
hämorrhoiden
vermehrter speichelfluss
zungenerkrankung
aufstoßen
augenschwellungen
hernie
haarausfall
kalter schweiß
trockene haut
nesselsucht
arthrose
darmprobleme
ohrinfektion
krebserkrankung
geschwollene drüsen
hohes cholesterin
niedriger blutzucker
arzneimittelabhängigkeit
verminderte arzneimittelverträglichkeit
schwierigkeiten beim gehen
psychotische störungen
rückenschmerzen
schwere leberfunktionstörungen
magenverstimmung
blähungen
unwillkürliche muskelkontraktion
augenschmerzen
vorzeitiger samenerguss
verändertes sperma
verlängerte erektion
roter schmerzhafter penis und vorhaut
scheidenausfluß
übermäßige scheidenblutungen
brustvergrößerung
ausfluß aus der brustdrüse
gewichtsabnahme
gewichtszunahme
zungenerkrankung
geschwürbildung im mund
fieber
schlafwandeln
depressionen
koma...

luftanhalten... das alles muss ja auch nicht unbedingt so sein. alles hat immer zwei seiten. also mindestens eine positive. nämlich: seitdem die blutplättchen, außer ihrer seit ewigen zeiten bestehenden funktion, sich bei einer verletzung eines blutgefäßes an das umliegende gewebe anzuheften und die verletzung zu verschließen, antiseptische stoffe freisetzen -eine durchaus positive eigenschaft dieses vielseitigen multifunktionalen präparats- können wir uns ungehemmt selbst beschneiden; hände, füße, was eben notwendig scheint, ohne gleich an einer blutvergiftung sterben zu müssen. sie haben lange gebraucht, um die stoffe zu synthetisieren, die eine derartige wirkung hervorrufen. na … wieviele probanden hat das wieder gekostet? ...darüber denke ich jetzt mal lieber nicht nach. denke schon zu viel nach. anstatt die station geradlinig anzusteuern, brav das zeug zu schlucken und wieder zurück ins lebendige strassenleben, wird wieder alles im täglich gedopten, aber dennoch keineswegs lahmzulegenden, supervernetzten hirngeflecht im mikrospaltungsverfahren konsequent zerdacht. halleluja, jetzt aber kurz ein abgesang aufs denken. schluss jetzt für immer. also dann... und dazu gönne ich mir ne zusatzdrönung. das zeug muss schnellstens her. gut, sehen wir mal zu, dass wir einen umweg machen. oder doch geradewegs zur medistation? die haben doch immer... nein, heut solls mal was besonderes sein. direkt von der strasse. unterstützung der lokalen strassendealer. so muss es sein. ...der dahinten. ...rastloser blick. ...könnte passend sein. ...etwas bleich … wie die kahle landschaft. schwache dealernatur. was solls, der hat vielleicht was gegen kopfschmerzen, gegen meine müdigkeit, ein saftiges aufputschmittel, oder was gegen magenschmerzen, haarausfall oder einfach eine handvoll buntes für ne anständige glückskanone. für oder gegen, ich nehme alles. na … der schwankt doch!? ist da alkohol im spiel? mir solls doch gleich sein.

eik:
hey, was machst du fürn gesicht. keine gesunde gesichtsfarbe bei so einem schönen sonnentag. siehst reichlich fleckig aus. aber was solls, geht mich nichts an. also … wie siehts aus? ist mit dir ein geschäft zu machen oder bist du zu...?

p1:
...ein geschäft?

eik:
ja, ein geschäft. eine handvoll buntes. kann auch weniger sein. habe frische scheine in der tasche.

p1:
äh, was…? ...geschäft? …ne handvoll buntes?

eik:
ok, ok, lass dir zeit. ich seh, du musst dich erst wieder neu sortieren.

p1:
hmm, ja … neu sortieren. ja, das muss ich. ...muss mich neu sortieren.

eik:
...hey langsam, du fällst ja gleich vom stein. siehst von nahem noch mieser aus als ich dachte. aber komm, ich helf dir auf, jung. kopf hoch. solls vielleicht was von dem fressautomaten sein?

p1:
lass mich doch. lass mich hier sitzen.

eik:
mensch, was haben sie denn mit dir gemacht? deine haut. hast du eine dieser unheilbaren hautkrankheiten?

p1:
wenns nur das wär. ich, ich … ähhh... scheiße, bei mir funktionierts nicht. meine haut wird immer dünner. meine organe halten der unnachgiebigen energiezufuhr der ununterbrochenen manipulation der zellaktivität und der provozierten hyperbeschleunigten teilung keinen augenblick mehr stand. sie tun das gegenteil. meine zellen gehen auf entschleunigungskurs. weißt du was das heißt: ich werde alt; ich werde bald sterben. meine haut ist ein hässlich grauer lappen. dünn wie pergament. faltig. überall falten. ich bin ein häßlicher faltensack. das einzig straffe an mir: fette blaue adern. ist das nicht ekelhaft. ich bin eigentlich schon tot. aber sie wollen nicht aufgeben. sie nicht. schicken mich immer wieder in die unerbittliche röhre. stopfen mich mit den neusten medikamenten voll. meine organe riesige giftdepots. stich mich an. hau mir irgendwo ne kanüle rein. ein vollrausch für mindestens 10 jahre ist dir sicher. also vollgepumpt wie ich bin ab in die nächste runde. wieder in die heiße röhre für stunden. und wieder und wieder und wieder. ich bin schon tot.

eik:
tja, sieht beinahe danach aus, was. aber wenn du mich fragst: man hätte dich einfach besser präparieren sollen. das haben sie versäumt, wie ich sehe. verflucht nachlässig. falsche medikamente. wer weiß. ja ... alles in allem eine traurige sache. das gms ist also keinen schritt vorangekommen, wie sies uns lange weiß machen wollten und du kannst froh sein, dass sie dich überhaupt noch an die frische luft lassen. was dir augenscheinlich gar nicht gut bekommt. lichtdermatose. vielleicht. aber ich bin kein fachspezialist. ist wirklich traurig. schade ums programm, schade um dich. aber wie ich sehe, hast du jedenfalls keine einzige pille anzubieten. außer man zapft dich an. wonach mir im moment gerade nicht ist. am besten du kommst einfach mit. hey, es gibt nichts mehr zu verlieren. und du hast dir einen ganzen sack pillen verdient. komm... gegen deine hautkrankheit finden wir schon was. irgendwer hat immer was.

p1:
lass gut sein. ich krieg den ganzen pillenscheiß umsonst. in einer halben stunde holen sie mich wieder.

eik:
du musst es wissen...



es ist schon erstaunlich, dass sie den herausgelassen haben. lebendig. ...halb lebendig. man zweifelt immer mehr an den dingen. vor allen dingen am programm. drei schritte nach vorn, zwei wieder zurück. und nachlässigkeiten können sie sich kaum leisten, wo doch jeder so fleißig spart aufs programm. gms1, gms2, gms3, wo sind wir den jetzt eigentlich angelangt? niemand weiß das so genau. und niemand weiß im detail, was eigentlich in der röhre vor sich geht. kann sich der prozeß einfach umkehren? eine innere verweigerung. die rigorose ablehnung eines künstlich verlängerten lebens. die zellen verbarrikadieren sich und inszenieren ihren frühzeitigen tod. nein, das muss an ihm gelegen haben. grundsätzlich zu schwach. keine kondition. man muss doch mal was aushalten können. ein bisschen hitze für kurze zeit. wenn doch. wenn alles zu ende ist. ein paar jahre drauf und das wars dann. alles nur spekulation. warten wirs ab. warten... spekulieren... ich muss zur station. los jetzt, hier ist nichts zu kriegen. frag den weißkittel, ob was zusätzliches abfällt. was nettes gegen die tägliche verwirrung. und gegen schattenschleier, die auch immer grösser werden. da müssen sie mir was geben. eine nebenwirkung. gegen nebenwirkungen, rücken sie was raus. scheiß schattenschleier. werde noch blind. haben die überhaupt was dagegen? vielleicht... herr doktor, haben sie etwas gegen die nebenwirkung der nebenwirkung der nebenwirkung? möglichst schnell. ich werde blind, herr doktor. sehen sie mir ins auge. die schatten im äußeren rand. nun ja, ich sehe. nur etwas grau. grauschwarz. wenn ich ihnen dann… das kostet. das wissen sie. mindestens 10 scheine. so ungefähr. 10 scheine, darauf muss ich mich gefasst machen. 10 scheine hierfür. 10 scheine dafür. obwohl dies wohl kaum nötig haben. bei dem nebenverdienst. rühren doch schon lange in der hochgezüchteten synthesemasse. der alte chemiker als fachspezialist ist grundsätzlich ausgestorben. wirklich schade ist es nicht. aber die neue spezies ist weitaus gefährlicher. vom mediziner zum hocheffizienten wirkstofftmischer. kein weiter weg. man hat schließlich genug gesehen. tägliche beobachtung der wirkstoffkonsumenten, dauertests an ahnungsloser lebendmasse, experimente an allzu willigen süchtigen. man ist bereits eingefahren; ein alter hase, bevor die suppe überhaupt angesetzt ist. nur das mischen und rühren ist neu. kann ich mal einen blick in eure synthesefabriken werfen? da kämen mir doch so einige gesichter bekannt vor, die da so lässig unsere sonderspezies kommandieren. die produktiven. exekutive der weißkittel. ja, unsrere sonderspezies. ein echter spezialfall. immer gerade durch das beste programm gelaufen: jungbrunnenfrischzellenkur in komfortröhren der extraklasse. so oft und soviel sie wollen. gut, der eine oder andere bleibt auch schon mal hängen. wird diskret aussortiert und abtransportiert. grundsätzlich aber läufts gut für die aufgefrischten dauerarbeiter. auf den ersten blick. nur auf den ersten blick. wie kann man nur? denn da ist ein haken. ein gewaltiger haken. der preis ist eindeutig zu hoch, sonst hätt ichs mir überlegt. aber arbeiten ein lebenlang oder wahrscheinlich sogar bald unendlich lang. in den chemie und lebensmittelkomplexen. und kein entkommen. kein raus, kein woandershin. ein mindestens verlängertes leben lang. völlig unakzeptabel. äh … und was ist das da? bisschen ramponiert. aha … panikattacken...! für jedes problem gibts eine lösung. trauen sie sich, fragen sie nach in ihrer medistation. aha, neue werbung. nicht ganz was ich suche. aber panikattacken, herzrasen, schweißausbrüche... kommt noch, gewiss. später in der strasse. ...wo sind meine scheine? ...hier. brauch bald ne neue hose. löcherbeutel... also 3 ... nee, besser fünf fürn fressautomaten. 20 für zusatzmedikamente. damit muss man rechnen. bleiben noch genau 2 für die tägliche ration. na, passt doch. das leben ist fast wieder schön. so einfach ist das, wenn sie mich keiner konrolluntersuchung unterziehn. belastungstest. herzrhythmus. reflexreaktionen. sehtüchtigkeit. das alles dauert mir viel zu lange. und fragen, fragen. wie geht es ihnen denn so? bekommt ihnen das medikament weiterhin gut? als wenns die wirklich interessiert. testen nur die laune. das ist ihnen wichtig. hoffentlich ist der lang genug bei bester laune. dann müssen wir uns keine unnötigen sorgen machen. alles unter kontrolle. wir fragen immer nach. ist der halbwegs zufrieden? kommt der klar; nimmts mickrige leben so hin? oder braut sich da was zusammen. unmut und lustlosigkeit; nichts ist gefährlicher als der unzufriedene konsument. haben wir diesmal richtig gemixt? ein spiel mit unkalkulierbarem risiko. ein wirkstoff zu viel; zu wenig. mengenverteilung. zusatzstoffe etc.; ihnen geht doch ab und zu die muffe. die kleinen chemiebomben gehen dann und wann nach hinten los. depressionen, sogar aggressionen. panik, beschleunigter blutdruck, brustschmerzen, schwindelgefühl. das sind die voraussetzungen für einen aufkeimenden widerstand. die brust und das leben werden zu eng. atemnot und man greift urplötzlich nach dem schlips des mediziners.

text und bild: ilka berger